Ein Plädoyer für den Zufall – oder wie Algorithmen die Shopper Experience korrumpieren

Ein Plädoyer für den Zufall – oder wie Algorithmen die Shopper Experience korrumpieren

Erinnern Sie sich an Herrn Tur Tur aus dem Kinderbuch „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ von Michael Ende? Aus der Ferne wirkt er wie ein Riese. Doch je näher man ihm kommt, umso kleiner wird, bis er nur noch so groß ist wie ein normaler Mensch. Ähnlich verhält es sich mit der Vielfalt im Internet. Bei genauerem Hinschauen schrumpft sie zusammen und wird zur Scheinvielfalt. Da stellt sich die Frage: Was macht das mit der Shopper Experience?

Dabei ist die Riesenauswahl an Waren im Netz durchaus real. Allein Amazon verkauft um die 350 Millionen Produkte im Netz, wenn man die Angebote auf dem Amazon Marktplatz einbezieht. Gleichgültig, wie ausgefallen der Wunsch auch sein mag, in der digitalen Welt findet sich ein Anbieter, der ihn erfüllt. Denn für Online-Händler lohnt es sich, nicht nur Bestseller, sondern auch Nischenprodukte anzubieten, wie wir seit Chris Andersons Buch „The Long Tail“ von 2006 wissen.

WER SUCHET, DER FINDET

Die ungeheure Vielfalt im Netz geht mit dem Einsatz neuer digitaler Technologien einher, die als Navigationshilfe beim Surfen durch die Vielfalt dienen. Zudem sollen sie es den Shoppern ermöglichen, auch solche Angebote zu finden, auf die sie selbst nie gekommen wären, weil sie auf unbewussten und nun zutage geförderten Aspekten ihrer Persönlichkeit basieren. Damit sie endlich bekommen, was sie wirklich wollen – ohne dass sie es artikulieren müssen.

Eingelöst wird das Versprechen der Hyperpersonalisierung mit Hilfe von algorithmischen Empfehlungssystemen, die von den großen Online-Plattformen permanent perfektioniert werden. So kann Amazon den Shoppern mit großem Erfolg Produkte aus der unüberschaubaren Fülle des Warenangebots vorschlagen, die ihnen gefallen könnten. Gleiches gelingt Netflix, Facebook, Google und Tinder in ihren jeweiligen Geschäftsfeldern.

Der User kann sich während dessen entspannt auf dem Sofa zurücklehnen und abwarten, was passiert. Er muss nicht einmal wissen, was er will. Er lässt sich einfach durch das auf ihn zugeschnittene Angebot „guiden“ und greift erst zu, wenn er der Eindruck hat, dass das Gezeigte wirklich hundertprozentig seinen Vorstellungen, Interessen und Wünschen entspricht.

IM NETZ NICHTS NEUES

Doch diese algorithmischen Empfehlungssystemen sind es, die die fantastische Vielfalt der schönen neuen digitalen Shopping-Welt zu einer Wiederkehr des Immergleichen machen und in eine Scheinvielfalt verwandeln. Das liegt hautsächlich daran, dass die großen Plattformen nichts dem Zufall überlassen. Schließlich geht es ums ganz große Geldverdienen. Da ist jedes Mittel recht, um dem Verkaufserfolg auf die Sprünge zu helfen – was an sich nicht verwerflich ist.

Algorithmischen Empfehlungssysteme verwandeln die Vielfalt des Internets in eine Scheinvielfalt.

Das gelingt Amazon & Co. auf Basis von gigantischen Datenmengen, die sie unaufhörlich über ihre User sammeln und mit deren Hilfe sie sie in berechenbare und durchschaubare Wesen verwandeln. Aus der nicht endenden Datenflut lassen sich mittels Künstlicher Intelligenzen die notwendigen Cluster und Muster ableiten, um Kunden personalisierte Angebote zu unterbreiten, denen sie nicht widerstehen können.

Das hat für die User den Vorteil, dass sie sich nicht selbst auf die Suche nach dem für sie passenden Angebot machen müssen. Die hyperpersonalisierte Produktempfehlungen geben ihnen zudem das Gefühl, dass sie als Individuum wahrgenommen und verstanden zu werden. Dabei geht jedoch etwas Wichtiges verloren: der Zufall. Doch gerade der ist für eine Shopper Experience, die die Kunden begeistert, von zentraler Bedeutung.

AUF KOSTEN DES ZUFALLS

In der Experience Economy, in der primär Erlebnisse und keine Produkte gekauft werden, zählt nicht allein das Ergebnis beim Shopping. Ebenso wichtig ist die Suche selbst – als inspirierende Erfahrung, bei der man Neues, Ungewohntes und Überraschendes entdeckt. Schließlich geht es beim Shoppen auch darum, die Vielfalt an Möglichkeiten auszuschöpfen und die Spontaneität zu genießen, die das Leben zu bieten hat.

Wo es also mehr ums Entdecken als ums Finden geht, fungiert der Zufall als entscheidender Lieferant sowohl von kreativem Input als auch von Status Storys, die man Freunden weitererzählen kann. Das erfordert jedoch eine Suche, bei der das Ergebnis nicht bereits von vornherein feststeht.

Beim Shopping, bei dem es mehr ums Entdecken als ums Finden geht, spielt der Zufall eine wesentliche Rolle.

Doch im E-Commerce entscheiden immer häufiger Algorithmen darüber, was wir anziehen, lesen, hören oder essen. Empfehlungssysteme nach dem Motto „Das könnte Sie auch interessieren“ sind selbstreferenzielle Systeme, die immer dieselben zu erwartenden Resultate produzieren. Jedes Feedback in Form von Klicks, Likes, Shares liefert den Anstoß für neue Empfehlungen, die auf den vorhergehenden basieren.

Doch bei einer Suche, die als Rückkopplungsschleife vom Ende, also vom Kauf her gedacht und inszeniert wird, geht der Zufall und damit das insprierende Element definitiv verloren.

IT’S A KIND OF MAGIC

Das Dumme ist nur, dass wir uns dessen nicht bewusst sind. Wir glauben, dass Empfehlungen, die auf Algorithmen basieren, uns helfen, das „Richtige“ zu kaufen – etwas, das exakt auf unsere Wünsche und Erwartungen zugeschnitten ist. In seinem Buch „What Algorithms Want: Imagination in the Age of Computing“ von 2017 zeigt Ed Finn, dass wir uns Algorithmen durchaus als eine Art Beschwörungsformeln vorstellen, die uns enthüllen, was wir es wirklich wollen.

Nach Ed Finn hat der Algorithmus seine Wurzeln nicht nur in der mathematischen Logik hat, sondern auch im magischen Denken. Die Menschen haben schon immer geglaubt, dass Beschwörungen – der Zauberspruch des Schamanen, der Segen des Priester etc. – Ordnung in eine chaotische Realität bringen. Auf E-Commerce-Plattformen wird der Algorithmus zur Beschwörungsformel, der das Chaos einer unendlichen Produktvielfalt in unserem Sinne strukturiert.

KORRUPTE PERSONALISIERUNG

In Wahrheit werden wir jedoch zielgerichtet manipuliert. Im Blogpost „Corrupt Personalization: How to Teach to the Algorithm“ zeigt der US-Informationstheoretiker Christian Sandvig, wie die Individualität der Shopper Experience und damit auch der Shopper durch die algorithmischen Empfehlungssysteme korrumpiert werden. Die Codes, die vorgeben, uns zu dienen, dienen primär kommerziellen Interessen, die in diametralem Widerspruch zu unseren eigenen stehen.

Algorithmen korrumpieren die Individualität der Shopper Experience, da sie primär kommerziellen Interessen und nicht denen der Shopper dienen.

Zudem führen die vermeintlich auf Echtzeitpersonalisierung abzielenden Algorithmen dazu, das die Shopper sich ständig in ihrem eigenen Daten-Dunstkreis bewegen. Das verhindert, dass sie etwas wirklich Neues und Überraschendes entdecken können. Die Frage ist also, was es für die Shopper Experience bedeutet, wenn deterministische Codes entscheiden, was bei den Konsumenten gut ankommt.

Werden künftig nur noch Marken und Produkte angeboten, die ein hohes „Engagement“ und damit Abverkäufe versprechen? Wie berechenbar ist eine Shopper Experience, deren Wert für den Shopper nicht nur aus dem Gewohnten, sondern auch aus dem Unvorhersehbaren resultiert? Stellt sich bei einer Wiederkehr des Immergleichen am Ende so etwas wie Langeweile beim Kunden ein, weil ihn nichts mehr überrascht?

PLÄDOYER FÜR DEN ZUFALL

Wie wichtig der Zufall für die Konsumenten ist, zeigt eine Anekdote, die Steve Jobs erzählte. Die Käufer der ersten iPods, die Apple auf den Markt brachte, beschwerten sich darüber, dass es vorkam, dass die eingebaute Zufallswiedergabefunktion machmal dieselben Songs oder die Songs vom selben Sänger hintereinander abspielte. Das sei gar nicht zufällig, meinten sie. Aber das war es. Es fühlte sich nur nicht so an. Also hat Apple die Shuffle-Funktion weniger zufällig programmiert, damit sie zufälliger wirkt.

Vielleicht sollten Online-Plattformen künftig den umgekehrten Weg einschlagen und ihre Empfehlungssysteme weniger deterministisch und dafür ein wenig zufälliger gestalten, um dem Zufall bei aller Zielgerichtetheit wieder ein Chance zu geben. Mehr Zufall beim Online-Shopping käme sicherlich auch bei den jungen Konsumenten gut an, vor allem bei der Generation Z.

Vielleicht ist es an der Zeit, dass der E-Commerce seine Empfehlungssysteme weniger deterministisch und dafür ein wenig zufälliger gestaltet.

Obwohl die 16- bis 24-Jährigen mit Internet und Smartphones groß geworden sind und viel Zeit damit verbringen, geben 80% der Befragten an, dass sie gerne in Geschäften stöbern, wenn es ihre Zeit zulässt. Dabei legen sie großen Wert auf Erlebnisse, bei denen sie Neues entdecken können. 68% kaufen gerade deshalb gerne in Läden ein, weil sie dort erfahren, was gerade angesagt ist – also mit Hilfe des Zufalls in der realen Welt und nicht mittels Algorithmen im Netz.

DER ZUFALL – EINE AUSSTERBENDE ART?

Doch wie lange der Zufall beim physischen Einkauf noch eine Rolle spielen wird, ist fraglich angesichts der digitalen Transformation, die dem Handel von Experten seit Jahren verordnet wird. Angesagte Lifestyle-Brands wie Nike haben bereits begonnen, die Prinzipien der algorithmischen Empfehlungssysteme aus der virtuellen in die reale Welt ihrer Stores zu übertragen. Das Sortiment der „Nike Live Stores“ orientiert sich explizit daran, was die Shopper in der Umgebung kaufen. Für die Auswahl werden natürlich digitale Handelsdaten herangezogen.

Umso mehr stellt sich die Frage, wie lange den Shoppern ein Einkaufserlebnis noch Spaß machen wird, bei dem der Zufall als inspirierendes Element eliminiert wurde und sie von Algorithmen mehr oder weniger manipuliert werden. Warten wir es ab!

Wenn Sie wissen möchten, wie Sie aufkommende Shopper Trends für eine Shopper Experience nutzen können, die Ihre Kunden begeistert, beraten wir sie gerne jederzeit und unverbindlich. Kontaktieren Sie uns einfach.

 


Vorschaubild: iStock

Wolf Thiem